Endre Kiss

 

 

DAS GLOBALE ALS DAS UNMITTELBARWERDEN DES ABSOLUTEN ODER DIE GEGENWART ALS PHILOSOPHISCHES PROBLEM

 

1989 publizierte Francis Fukuyama seine auf einen Schlag weltberühmt gewordene Studie über das "Ende der Geschichte". Zu dieser Zeit existierte noch die Sowjetunion als Megastaat, so dass in diesem Fall der Theoretiker keineswegs erst nach der Entscheidung der Ereignisse seine Arbeit geleistet hatte.

Fukuyama machte hier den ersten Versuch, um jenen historischen Prozess in einen universalgeschichtlichen Rahmen zu stellen, den man seit 1985 als "Glasnost" und spaeter schon als "Perestrojka" kennengelernt hatte. Der Begriff "Universalgeschichte" bedarf der Erklaerung. Wir schlagen nicht nur eine klare begriffliche Unterscheidung zwischen Geschichte und Geschichtsphilosophie, sondern auch zwischen "Geschichtsphilosophie" im traditionellen Sinne und "Universalgeschichte" (die sich im englischsprachigen philosophischen Raum unschwer als "universal history" benennen laesst) vor. Die Differenz zwischen diesen beiden Arten der Philosophie der Geschichte ist weitreichend. Denn eine richtige Philosophie der Geschichte ist berufen, den Gesamtprozess der menschlichen Entwicklung philosophisch reflektiert zu konstituieren und darzustellen. Dagegen besteht die ursprüngliche Aufgabe der Universalgeschichte nicht in einer ganzheitlichen und theoretischen Darstellung des historische Gesamtprozesses, sie muss mehr essentialistisch sein und jene Essenz des Gesamtprozesses in der Form einer einzigen Konzeption entwerfen, die auch schon direkte und explizite kausale Optionen für die Erklaerung dieses Gesamtprozesses enthaelt. Für diese Differenz liefert gerade Hegel ein anschauliches Beispiel. In seinen Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte tritt er als Verfasser einer im klassischen Sinne verstandenen Geschichtsphilosophie, waehrend seine Konzeption über den Kampf um die Anerkennung zwischen dem Herrn und dem Knecht in der Phaenomenologie des Geistes eine der klassischen und im europaeischen Kontext seltenen Konzeptionen der neuzeitlichen Universalgeschichte ist. Er ist also ein Beispiel dafür, dass die beiden Arten der Geschichtsphilosophie auch bei einem und demselben Autor artikuliert werden konnten, und zwar auf eine Weise, dass diese beiden Gattungen der geschichtstheoretischen Reflexion auch bei diesem einzelnen Autor ihre wichtigsten Bestimmungen deutlich beibehalten.

Francis Fukuyama stellte also die Ereignisse des Jahres 1989 nicht in einen geschichtsphilosophischen, vielmehr in einen universalgeschichtlichen Rahmen, nach den vorhin angedeuteten Bestimmungen und Merkmalen dieser beider philosophischen Anschauungsweise der Geschichte. Dass sein Verfahren unter den Politologen, Politikwissenschaftlern oder politischen Analytikern nicht gerade ein weit verbreitetes war, laesst sich leicht einsehen. Dass jedoch Fukuyamas universalgeschichtliche Ausdehnung der theoretisierten Zeitproblematik weitgehend legitim war, beweist unser ganzer Gedankengang.

Die naechste Frage, die an dieser Stelle mit Notwendigkeit gestellt werden muss, ob die globale Bedeutung von Gorbatschows Perestrojka und der aus ihr ausgehende Gesamtprozess tatsaechlich von universalgeschichtlicher Relevanz war oder nicht. Weil auf diese Frage zahlreiche Antworten möglich sind, würden wir zwar die endgültige Antwort spaeteren Generationen überlassen, vorlaeufig würden wir jedoch gleichzeitig auch hervorheben, dass diesem historischen Prozess allein in seiner Qualitaet als Abschluss der Zweiteilung der Welt eine universalgeschichtliche Relevanz zukommen muss. Wir wollen nicht behaupten, dass nach 1945 einzig die Tatsache der Zweiteilung ein Faktum von universalgeschichtlicher Relevanz gewesen ist. Die Zweiteilung war jedoch die bestimmendste universalgeschichtliche Tatsache, und zwar vor allem, weil sie ursprünglich (die Erinnerung an diese Grundbefindlichkeit ging in den vielen Phasen der diversen Entspannungswellen mit Notwendigkeit zurück) eine Zweiteilung war, die einen "latenten" und "allgegenwaertigen" (eben den "kalten") Krieg konstituierte, denn dieser "kalte" Krieg potenzierte die Konfrontation der beiden Weltteile ins Universale. Zur extremisierten Konfrontation der politischen Systeme gesellte sich diejenige der Ideologie und der ganzen Weltanschauung ("man schaute in der zweigeteilten Welt in der Tat zwei verschiedene Welten", wobei die eventuellen Grenzüberschreitungen mit Notwendigkeit als das höchste Verbrechen angesehen werden sollten1, die Kontakte zwischen diesen beiden so unterschiedlichen Welten waren schlicht verboten, Feindbilder waren alltaegliche Realitaet, sogar noch auch die eigene Identitaet wurde ausschliesslich in diesem konkreten und allumfassenden Feind-Freund-Verhaeltnis definiert. Man sollte ferner auch noch an die spaeter immer mehr in Vergessenheit geratene Tatsache erinnern, dass auch die anderen, in dieser Zweiteilung nicht vertretenen Staaten und Regionen der Erde erst nach der klassischen Zeit der Zweiteilung sich sowohl politisch wie auch wirtschaftlich erst richtig organisieren konnten2.

Schon jetzt können wir eine unserer Thesen vorausschicken. Sie lautet so: wie die Zweiteilung selber die Grundstruktur der Globalisation jener Zeit abgab, auch das durch Gorbatschow konkretisierte (im Prinzip aber selbstverstaendlich nicht die einzig mögliche) Ende der Zweiteilung ebenfalls die konkrete Form der Globalisation, allerdings die der Globalisation unserer Zeit ist. In diesem Sinne ist ein "Ende der Zweiteilung" zumindest umgangssprachlich und auch ohne tiefergehende theoretische Analyse auch ein "Ende der Geschichte"3.

Bevor aber wir auf die geschichtstheoretischer Analyse eingehen würden, ersteht jene - an geschichtstheoretischen Dimensionen ebenfalls reiche - Frage, die sich an die Vorhersehbarkeit der post-sozialistischen Transition beziehen soll. Diese extreme Dimension des Unvorhersehbarkeit des spaeter sich tatsaechlich Einsetzenden löste mit Recht eine erhebliche Krise sowohl in der Identitaet wie auch in der Legitimitaet unter den hier fachlich berührten Wissenschaften hervor4.

Dieses bis heute im intellektuellen Raum stehende Faktum des Unvorhergesehenseins unterstreicht und legitimiert nochmals unser Interesse auf die auf Hegel aufgebaute Interpretation von Francis Fukuyama. Nicht nur aus dem Grunde, weil Fukuyama's erster nennenswerter theoretischer Ansatz in einer Zeit noch aus einer Zeit stammt, als die Sowjetunion noch bestand und Gorbatschow der amtierende Generalsekretaer der KP war, sondern auch aus dem Grunde, weil sein Deutungsversuch gerade vor dem Horizont des allgemeinen Unvorgesehenseins als eine von Anfang an theoretisch schon fundierte Ausnahme ein gesteigertes Interesse verdient. Denn worin bestand eigentlich jene entscheidende Tatsache, dass das spaeter sich einsetzende Ereignis nicht schon im voraus signalisiert worden ist? In der Tiefe findet man einen Konflikt zwischen den "universalhistorischen" und den "realpolitischen" Ansaetzen. Was "universalhistorisch" sinnvoll, notwendig, sogar auch als überholt war, erschien lange Zeit "realpolitisch" als unmöglich. Die Unmöglichkeit der realpolitischen Verlaengerung gewisser innovativer Ideen führte zur Tatsache des Unvorhergesehenseins. Fukuyamas universalhistorische Annaeherungsweise verdient gerade in diesem alles bestimmenden Konflikt einen spezifischen Respekt.

Die universalgeschichtlich in unserem Zusammenhang wohl wichtigste Tatsache ist selbst eine komplexe und synthetische. Sie ist mit dem Ausgang jenes historischen Moratoriums identisch, über welches das System des realen Sozialismus auf legitime Weise verfügte. Den Begriff des historischen oder des geschichtsphilosophischen Moratoriums für ein ganzes System, eine konkrete soziale Institution hat der Verfasser dieser Zeilen speziell für die theoretische Beschreibung der post-sozialistischen Transition gebildet, nachdem er den heuristischen Wert der Kategorie eines konkret existierenden, sozial wahrnehmbaren Moratoriums für die in die Gesellschaft hineinwachsenden Jugendlichen in Erik H. Eriksons sozialpsychologisch orientierten Identitaetskonzeption erkannte und denselben Begriff des sozialen und soziologischen Moratoriums in die Universalgeschichte der Gegenwart aufgenommen hatte. Die Grundlage dieses Verfahrens bestand darin, dass (metaphorisch gesagt) die Geschichte in der Form der einzelnen Objektivationen des öffentlichen Bewusstseins tatsaechlich das gleiche Verhalten gegenüber einer neuen sozialen Einrichtung an den Tag legt, wie die Gesellschaft gegenüber den ihre verlaengerte Pubertaet auslebenden Jugendlichen5.

Was also das historisch-geschichtsphilosophische Moratorium des real existierenden Sozialismus wirklich anbelangt, so sollte es klar werden, dass dieses, obwohl bis dahin ein tatsaechlich wirksamer Faktor, sich nach 1968, d.h. nach dem Einmarsch in die Tschechoslowakei, zumindest perspektivistisch verflüchtigt hatte. Dieses Jahr, auch als entscheidende Wendemarke, hatte die Wurzeln auch jedes möglichen weiteren Moratoriums ausgemerzt, indem es alle Hoffnung zunichte machte, die auf die Möglichkeit einer tatsaechlichen Weiterentwicklung des Post-Stalinismus in einen Reformkommunismus gesetzt worden waren. Man mag prinzipiell unterschiedliche Meinungen über die historische Möglichkeit des Reformkommunismus haben, doch kann kein Zweifel darüber bestehen, dass eine Transformation in dieser Richtung der einzige denkbare Schritt gewesen waere, das historisch-geschichtsphilosophische Moratorium des realen Sozialismus überhaupt nur zu verlaengern6. Dieser Einmarsch hat mit der Brutalitaet der Waffen gezeigt, dass die neue, aus der "eigenen" Kritik des Stalinismus (und früher noch: des Kapitalismus) geschöpfte "negative" Legitimation der poststalinistischen Einrichtung nicht in eine "positive" Kritik und zu einer eigenen selbstaendigen Vision über die Gesellschaft der Zukunft übergehen konnte. Der Einmarsch, ob selbst nur als Symptom, oder als entscheidende, über einen Eigenwert verfügende Tatsache, hat aufgewiesen, dass so etwas wie ein reformkommunistischer Staat als umfassende Einrichtung nicht existiert. Dieses Verschwinden des für die Systeme des reral existierenden Sozialismus existierenden Moratoriums schlug sich, wie kaum anders zu denken, auch in der Politik und der Mentalitaet der herrschenden Eliten nieder. Diese Tatsache führt gleich in zwei wesentlichen Richtungen weiter. Sie signalisiert auf der einen Seite, dass das ins Zentrum der Fukuyama-Interpretation gestellte Moment des Kampfes der Werte tatsaechlich weit bis in die höchsten Kreise der herrschenden Elite vorgedrungen ist. Auf der anderen Seite führt dieses Bewusstsein, am Ende eines welthistorisch gegebenen Moratoriums zu stehen, zur Entstehung der "Dezision", d.h. zur Genese des tatsaechlich dezisiven Charakters der ganzen "Perestrojka"7. Die Dezisivitaet ist für unseren aktuellen Versuch, die Inanspruchnahme des Hegelschen Gedankengutes bei der Interpretation der Gegenwart als philosophischen Problems zu untersuchen, nur von untergeordneter Bedeutung, die sinnvollerweise vor allem als ein Moment des Unmittelbarwerdens des Absoluten, als logisches und notwendiges Attribut der welthistorischen Persönlichkeit in diesem Zusammenhang erscheinen kann.

Francis Fukuyama's Interpretation gewinnt ihren Stellenwert aus der Singularitaet dieser welthistorischen Situation. Denn die Einsicht in den Ausgang des historischen Moratoriums stand in einem perfekten Gegensatz zu den definitiven politisch-strukturellen Eigenschaften des politischen Systems des realen Sozialismus selber. Es ist auch nicht immer leicht, hinter dieser trivialen Feststellung das in geschichtstheoretischer Sicht Spezifische zu erblicken. Diese Singularitaet einer Einsicht in die Notwendigkeit der Veraenderung und der praktisch-instrumentellen Unmöglichkeit, sogar noch Unvorstellbarkeit derselben Veraenderung ist schon eine Tatsache, die in ihrer Aufforderung zur unkonventionellen Dezisivitaet jegliches Interesse einer theoretischen Geschichtsbetrachtung verdient. Weil aber diese singulaere Situation gerade das Schicksal der bestimmenden Tatsache der Universalgeschichte der letzten Jahrhunderthaelfte zu bestimmen berufen ist, gilt ihre ebenfalls universalgeschichtliche Reflexion ist alles andere als illegitim.

Nach der Andeutung der Singularitaet und des universalhistorischen Charakters der Gegenwart waere nunmehr die Frage nach einem "Ende der Geschichte" zu stellen. Dieses Problem existiert auch ohne direkten Bezug auf die Gegenwart als Teil der Universalgeschichte. Merkwürdigerweise löste die Artikulation dieser Idee vor Fukuyama's mehrfacher Heraufbeschwörung Hegels kaum eine der aktuellen Reaktion auch nur aehnliche Raesonanz. Um nur einige Beispiele ausser der unmittelbaren Vorgeschichte der Fukuyama-Diskussion von Kojeve bis Leo Strauss zu nennen: Albert Camus' grosszügige und tatsaechlich universalgeschichtliche Vision vom "Ende der Geschichte" durch die Einführung des Napoleonischen Gesetzbuches (was ja haargenau auch an Fukuyamas Theorie erinnert) blieb so gut wie ganz unbemerkt8. Nicht viel anders erging Arnold Gehlens Thematisierung eines "Endes der Geschichte"9, die ja in ihrer Aussage ebenfalls von Fukuyama nicht mehr so fern stand. Ferner nahm die philosophische Öffentlichkeit auch ohne die Zeichen jeglichen sichtbaren Entrüstetseins, dass ein ganzer fachphilosophischer Aufsatz ausschliesslich nur all die Konzeptionen referierte, die sich mit dem theoretisch aufgefassten Problem des "Endes der Geschichte" auseinandergesetzt haben10. Merkwürdig ist es also nach all dem, dass dieselbe Problematik gerade in Fukuyama's Thematisierung in dem Sinne beinahe zu einem Stein des Anstosses werden konnte, wie als der pure Gedanke von einem "Ende der Geschichte" ein kleines Skandal waere.

Wir brauchen in die Einzelheiten dieser abstrakten Fragestellung auch aus dem Grunde nicht weiter einzugehen, weil unserer Auffassung nach die Thematisierung von einem "Ende der Geschichte" weniger von der Anwesenheit oder der Thematisierung von neuen, nie dagewesenen und mehr oder weniger absoluten historischen Komponenten als vielmehr von den entsprechenden Definitionen abhaengt. Wir teilen die Auffassung mit mehreren grösseren philosophischen Schulen, dass "Geschichte" stets auch von den einzelnen historischen Subjekten aus definiert werden soll. Die Geschichte eines Staates, einer Institution oder etwa einer Wissenschaft ist somit auch von der Subjektseite aus bestimmt, so dass ein "Ende der Geschichte" in allen jenen Faellen ohne weitere Probleme möglich waere, wenn etwa das zur Grundlage der Definition der Geschichte dienende Subjekt untergeht. Für einen Sportclub ist es sicherlich und ohne jeglichen Zeifel ein "Ende der Geschichte", wenn diese Organisation sich auflöst. Es ist aber auch eine andere Redeweise vom Ende der Geschichte möglich. Es geht um Faelle, als so breite und umfassende historische Periode definitiv zu Ende gehen, dass bei der Reflexion dieser Prozesse schon die Umgangssprache diese Variante waehlt. Wer könnte etwas dagegen anwenden, wenn man auf das achtzehnte Jahrhundert rückblickend angesichts des "Ancien Regimes" von einem "Ende der Geschichte" sprechen würde11.

Zusammenfassend liesse sich behaupten, dass die Möglichkeit der sinnvollen Rede vom "Ende der Geschichte" nicht so sehr von der Existenz von abstrakt-allgemeinen Bedingungen, vielmehr von jenen Kriterien abhaengt, die der Denker für seine Konzeption vom "Ende der Geschichte" im vorhinein benennt. Die Adaequanz einer Auffassung vom "Ende der Geschichte" ist also eine Frage der Entsprechung der einsetzenden historischen Situation mit den selbstgegebenen Bedingungen und Kriterien der Theoriebildung. Es gilt, die Frage zu stellen (und zu lösen), was Francis Fukuyamas selbstgegebene Kriterien eigentlich sind und ob diese Kriterien sich angesichts der historischen Gesamtsituation sich bewahrheiten oder nicht.

Da diese Erneuerung der Idee vom "Ende der Geschichte" direkt mit umfassenden weltgeschichtlichen Veraenderungen verbunden war, so entstand der Schein durchaus einfach und leicht, dass das Eintreten dieser konkreten weltgeschichtlichen Veraenderung das "Ende der Geschichte" selbst gewesen waere. Man las also Fukuyamas Interpretation der aktuellen Ereignisse so, dass deren Inhalt das Ende der Zweiteilung der Welt gewesen waere. Trotz dem Anschein war es nicht Fukuyamas These, dass die zweigeteilte Welt ihr Ende erfaehrt. Der Gehalt der These vom "Ende der Geschichte" war es also nicht, dass die Zweiteilung zu Ende ging, obwohl der wirkliche Inhalt dieser These auch mit einem Ende der Zweiteilung gleichbedeutend gewesen ist. Aehnlich stand es mit der ebenfalls akzentuierten Interpretation, dass die These vom "Ende der Geschichte" eigentlich ein Ende der Ideologien in der Form des "Sieges des Liberalismus" aussagen gewollt hatte. Es war ebenfalls nicht der direkte Inhalt dieser Theorie, obzwar auch auf diese Version bezog es sich, dass die wirkliche These auch noch diesen Inhalt durch isomorphe Sktukturierung der Ausagen beinhaltete. Auf der gleichen Weise wurde Fukuyamas eigentliche Aussage oft so verstanden, dass sie ein Ende der Rivalitaet und der Konkurrenz der beiden grossen Ideologien bedeute (was sinnvollerweise auch in der Richtung noch ausgeweitet werden dürfte, dass damit auch die ideologische Konkurrenz innerhalb der einzelnen Gesellschaften im Osten und im Westen zusammengeht). Aber auch auf diese Interpretationsversion bezieht sich das vorhin Gesagte: Es war zwar nicht der primaere Inhalt der Fukuyama-Interpretation, durch diverse Isomorphien laesst sich jedoch auch noch diese These mit ihr in Verbindung gebracht werden.

Es laesst sich bereits schon verallgemeinert feststellen, dass die unmittelbare Aufnahme der Fukuyama-Interpretation weitgehend von einer dieser drei Möglichkeiten beherrscht worden sind, was auch mit Notwendigkeit heissen sollte, dass sie dem wahren Gehalt nicht wiedergaben, waehrend sie - potenziert durch die in einer Richtung weisenden und einander verstaerkenden Isomorphien - gerade in dieser vermeintlichen Schaerfe in Sachen der letzten Fragen der aktuellen Weltgeschichte (Ende der Zweiteilung, Ende der Rivalitaet der Ideologien, bzw. Ende der Ideologien überhaupt) fast wie eine merkwürdige und apodiktische letzte Interpretation der Gegenwart erschien. Es waere unter allen Umstaenden eine merkwürdige Konzeption und eine ebenso merkwürdige Interpretation der Ereignisse des Jahres 1989! Wir brauchen aber diesen Spuren nicht unbedingt auch weiter zu verfolgen, denn - trotz den im spaeteren noch anzusprechenden Isomorphierelationen - nicht sie den eigentlichen Inhalt der Fukuyama-Theorie ausmachen12. Es versteht sich demnach auch, dass diejenigen kritischen Positionen, die sich gegen Fukuyama in den genannten drei Punkten richten, für uns schon deshalb nicht von primaerem Interesse sein können, weil sie nicht die direkten Aussagen von Fukuyama berühren. So eminent anziehend beispielsweise die Fragestellung waere, ob etwa das Ende der Zweiteilung der Welt (das Ende der Rivalitaet der Ideologien, das Ende der Ideologien überhaupt) bereits das "Ende der Geschichte" ist oder nicht, ergaebe so eine Auseinandersetzung keine unmittelbare Fukuyama-Diskussion.

Naeher kommt man zu den ursprünglichen Intentionen von Francis Fukuyama, wenn man neben seinem energischen Rückgriff auf Hegel auch seine kohaerent ausgearbeiteten Kant-Hinweise zu systematisieren sucht. Damit erweist er einen weiteren Dienst der den Zeitproblemen sich öffnenden Philosophiegeschichte, die ja etwa 1995 zum Anlass des zweihundertjaehrigen Jubilaeums der Entstehung des Der ewige Frieden die auch im Politischen adaequat in Anspruch zu nehmenden Universalgeschichte Kants in den Mittelpunkt zu stellen wusste. Die Parallelen der historischen Gesamtsituationen nach 1789 und 1989 fallen in diesem Vergleich leicht ins Auge. Nur andeutungsweise sei auf Fukuyamas treffenden Begriff der "transhistorischen" Sicht Kants (und jeder philosophischen Universalgeschichte) hingewiesen, mit dem er die spezifische Geschichtlichkeeit der Universalgeschichten zwischen derjenigen der klassischen Geschichtsphilosophien (von Herder bis Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte) und einer ahistorischen politischen Philosophie auszeichnet. Es ist ebenfalls ein wichtiges Moment, dass Fukuyama in Kants universalgeschichtlicher Konzeption eine ewige und unaufhebbare Herausforderung aller Denker spaeterer Zeiten erblickt13. Kaum weniger relevant ist in unserem Zusammenhang, dass Fukuyama auch bei Kant ein mögliches und theoretisch einwandfrei annehmbares "Ende der Geschichte" signalisiert: "Kant suggested that history would have an end point, that is to say, a final purpose that was implied in man's current potentialities and which made the whole of history intelligible. This end point was the realization of humam fredom...The achievement of...a...civic constitution and its universalization throughout the world would then be the criterion by which one could understand progress in history"14. Wie dies aus unserem ganzen Gedankangang hervorgehen wird, betrachten wir die hier von Fukuyama problematisierten Bedingungen und Kriterien (Verfassung, Menschenrechte, Gewaltenteilung plus die Universalisierung, bzw. Internationalisierung derselben) als ausreichend, dass auf ihrer Grundlage über ein "Ende der Geschichte" geredet werden kann, und zwar strikt in dem Sinne, in dem wir in der Einleitung dieser Arbeit generell über die Möglichkeit einer Rede über das Ende der Geschichte unsere Einstellung darlegten. Im weiteren ist es uns nicht möglich, auf all die Momente im Detail hinzuweisen, in denen Kants Analyse über die universalgeschichtlich relevante Sitiuation seiner Gegenwart und Fukuyamas Analyse über die universalgeschichtlich relevante Situation seiner Gegenwart wie spektakulaer zusammenfallen. Zum Teil enthebt uns dieser Aufgabe aber auch diese Kette von wissenschaftlichen Veranstaltungen, die Kants universalgeschichtliche Konzeptionen vor allem im Kontext des Zum ewigen Frieden in dem vergangenen, aber auch in diesem Jahr bereits auf die globalen und internationalen Probleme unserer Zeit vielschichtig angewandt haben15.

Es ist für das Verstaendnis des Fukuyama-1989-Phaenomens also von erheblicher Bedeutung, dass Fukuyama - wie wir es soeben sehen konnten - sowohl seinen interpretatorischen Ansatz direkt "universalgeschichtlich" versteht wie auch die mögliche Erneuerung der universalgeschichtlichen Fragestellung als explizite Forderung bei der Interpretation der Gegenwart thematisiert. Damit sind wir aber auch bei der grundsaetzlichen Fragestellung angelangt.

Betrachtet man Fukuyamas universalgeschichtliche Konzeption von einer naeher placierten Perspektive aus, so erscheint sie uns gleich in zwei Versionen. Die erste Version wird vor allem im ursprünglichen Aufsatz im Jahre 1989, die zweite Version in Francis Fukuyamas 1992 erschienenem Buch vertreten. Es ist entscheidend, dass beide Fassungen auf Hegel zurückgehen. Durch einen charakteristischen Unterschied (auf dessen Interpretation wir erst spaeter eingehen werden) greift Fukuyama in der ersten Fassung seiner Konzeption auf die (Hegelsche) Problematik der Anerkennung, bzw. der Herr-Knecht-Rivalitaet zurück, waehrend er in der zweiten Fassung seiner Konzeption auf das Jahr 1807, bzw. auf die Code Napoleon als das Schlüsselereignis des Konzeptes vom "Ende der Geschichte" hinweist. Im folgenden befassen wir uns mehr mit der ersten Fassung, weil wir sie für theoretisch wichtiger halten, obwohl es auch aus rein theoretischer Sicht von grossem Interesse ist, dass dadurch auch in einer konkreten und sich auf die Gegenwart beziehende Konzeption eines Politologen unserer Tage der Hegel der Phaenomenologie und der systematisierende Hegel in eine struktur- und diskursbildende Opposition gestellt werden (in der zweiten Version erscheint er als ein Theoretiker, der 1807 oder 1830 aufgrund seiner klar ausgewaehlten Kriterien als den Zeitpunkt des "Endes der Geschichte" hinstellte). Der theoretisch wichtigste, tatsaechlich konstitutive Akt des theoretischen Ansatzes ist bei Fukuyama die Verknüpfung des Gorbatschowschen Verzichts auf (allseitige) sowjetischen Machtansprüche mit Hegels Grundinterpretation der Weltgeschichte. Auf einer für Fukuyamas Methodik charakteristische Weise vereint ein Argument zwei unterschiedliche Argumente in sich. Das erste Argument ist mit der Interpretation Gorbatschows als bewusstes Beenden einer welthistorischen Periode, waehrend das zweite mit der Interpretation dieses Endes als eine Realisierung und aktuellen Manifestation der Hegelschen Herr-Knecht-Analyse identisch ist. Diese beiden Argumente vereinen sich bei Fukuyama in einer Weise, die analytisch oft voneinander kaum exakt zu trennen sind.

Das Fukuyama-Theorem kann somit überhaupt nur rekonstruiert werden, wenn wir diese nicht explizit gemachten beiden Argumente nicht nur im einzelnen akzeptieren, sondern auch ihre, wie gesagt, nicht explizit gemachte Vereinigung ebenfalls stillsachweigend affirmieren. Wie also angedeutet, auch im Falle einer Akzeptierung der beiden Ausgangsthesen erweist sich das ungenügende Ausmass der Explikation zahlreiche tatsaechliche wissenschaftslogische Probleme.

Schaut man jedoch nach dem Wahrheitsgehalt der einzelnen Thesen, so kann man zu folgenden Ergebnissen kommen. Dass die Bestimmung der Geschichte generell mit einer breit verstandenen Herr-Knecht-Relation (Klassenkampf oder aehnliche Bestimmungen) geschieht, ist ein weit verbreiteter Topos in der philosophischen Analyse der Geschichte, wie eben auch, dass das Ende dieses ewigen Kampfes schon das Ende der Geschichte sei. Abgesehen also von der grossen Anzahl der hier assoziierbaren geschichtsphilosophischen Konzeptionen kann diese These - auch in der Form der Verlebendigung des Hegelschen Ansatzes - zumindest in ihrem Typus kaum generell als neu angesehen werden. Dass das "Ende aller Kaempfe" den im vorhinein konkret angebenenen Kriterien gemaess auch ein "Ende der Geschichte" sein kann, laesst sich ohne grössere Schwierigkeiten verstehen, was jedoch überhaupt nicht heissen will, dass die mit diesem Komplex immanent verbundenen theoretischen Probleme aufgrund dieser Einsicht schon als gelöst haetten abgetan werden können16.

Spezifischer steht es mit der zweiten Grundthese (der reale Sozialismus, auch in seiner durch die Sowjetunion verkörperten Form sei eine soziale Einrichtung, auf die die Vorherrschaft und die Anerkennung der Herr-Knecht-Relation charakteristisch gewesen waere). Auf der Linie der mangelnden Explikation des Fukuyamaschen Gedankenganges ist es kaum verwunderlich, wenn auch diese These sich in zwei weitere Thesen auflösen laesst. Denn die erste Facette dieser These bezieht sich logischerweise auf die Tatsache der ideologischen, und zwar der marxistisch-leninistischen ideologischen Bestimmtheit dieser sozialen Einrichtung17. Dehnt man diese Haelfte der These von Francis Fukuyama in dieser Richtung aus, so liegt die Folgerung auf der Hand, dass die (ideologische) Hegemonie des sowjetischen Marxismus-Leninismus identisch mit der weiteren bestimmenden Existenz der Herr-Knecht-Relation ist. Mit einem erheblichen strukturellen Perspektivenwechsel und in einer ausschliesslich analytisch-ideologiekritischer Sicht laesst sich die (sowjetmarxistische) Theorie des Klassenkampfes mit dem Hegelschen Anerkennunsproblem in Verbindung bringen18. Zu diesem Komplex gehört ferner auch die spezifische Selektivitaet des sowjetmarxistischen Leninismus, der selbst noch die vorherrschenden Herr-Knecht-Relationen unter spezifischen Perspektiven beurteilte. Die sowjetmarxistische Ideologie betrachtete vor allem die westliche Welt als eine Welt, die von der Herr-Knecht-Relation beherrscht wird. Sie tat es auch mit jenem Siegeszug des Liberalismus, der zur Artikulation von Fukuyamas Theorie geführt hatte, deshalb kann ein Verzicht auf sie tatsaechlich als ein Symptom von welthistorischer Bedeutung interpretiert werden. Zu ihrer spezifischen Selektivitaet gehört aber an der anderen Seite, dass sie die "eigene" Gesellschaft als ein Universum angesehen hatte, wo dieselbe Herr-Knecht-Relation nicht vorherrscht, die also auf ihre Welse durch die Ausschaltung dieser bestimmenden Komponente ein "Ende der Geschichte" tatsaechlich erzielt hatte19.

Die Welt der Ideologie des Marxismus-Leninismus ist sicherlich keine grosse Philosophie unseres Jahrhunderts. Ein Verzicht auf sie jedoch aufgrund der vorhin angeführten strukturellen Momenten ist tatsaechlich eine entscheidende Wende nicht nur in der Interpretation der Gegenwart, sondern im internationalen theoretischen und intellektuellen Verkehr.

Obwohl die ideologisch-wertphilosophische Dimension des Gorbatschowschen Verzichts in der ganzen Fukuyama-Diskussion stark akzentuiert wird, darf man jedoch auch nicht aus den Augen verlieren, dass eine Deklarierung des Verzichts auf die ideologische Vertretung der Herr-Knecht-Relation gleichzeitig auch eine klare politische Dimension hat. Denn die gleich einsichtigen politischen Konsequenzen dieses ideologischen Wandels führen zu einer Umwertung der globalen politischen Ordnungen und bewirken in dem gleichen Atem die Beseitigung der inneren Schranken, die in den betreffenden Laendern vor den Ausbau von demokratischen Institutionen gestellt worden waren20.

Auf dieser Linie laesst sich der Grundtenor von Fukuyamas Theorie verifizieren, allerdings nur auf dieser Linie der verschiedenen Ideen und gedanklichen Alternativen. Verfolgt man diese Linie nicht, so erscheinen diese Argumente vor allem wegen der mangelnden Explizitheit nicht und - wie dies die ganze Geschichte der Rezeption voll bestaetigt hatte - die Adaptation einer im deutschen Idealismus wurzelnden universalgeschichtlichen Konzeption auf die Umwaelzungen der Gegenwart wird einfach nicht verstanden.

Diese von uns verfolgte Linie bedeutet noch nicht, dass die Tiefe und die Komplexitaet der Fragestellungen nichts mehr zu wünschen übrig haetten. Vor allem bezieht es sich auf die Problematik des Liberalismus selber. Auf der einen Seite bewahrheitet sich Fukuyamas These vom Sieg des Liberalismus 1989/1990 voll und ganz, auf der anderer Seite will er einen öffentlichen und klar verfolgbaren internationalen politischen Prozess deutlich machen und nicht eine philosophische Rekonstruktion des Liberalismus liefern. Denn die vermeintliche Dünne und Eindimensionalitaet des positiven Liberalismus-Bildes von Fukuyama ist grösstenteils in seiner Konzeption legitim, er wollte nicht den modernen Liberalismus als universalgeschichtliche Grösse einer eingehenderen Analyse unterziehen, er wollte die Analyse des Liberalismus im Kontext seiner eigenen Themenstellung auf ein Mass beschraenken.

Eine von der vorangehenden vollkommen unterschiedliche Fragestellung ist jedoch, dass es zahlreiche Dimensionen des von Fukuyama rekonstruierten historischen Prozesse gab, die einfach in dem spaeteren Verlauf der internationalen Prozesse nicht bestaetigt worden sind. In diesem Fall geht es also überhaupt nicht mehr um die mehr oder weniger von der universalgeschichtlichen Perspektive diktierten "Eindimensionalitaet" der Liberalismusinterpretation, vielmehr um jenen simplen historischen (und keinesfalls theoretischen) Tatsache, dass zahlreiche Tendenzen dieses Liberalismus, die 1989 und 1990 mit Recht als bestimmend, sogar auch noch als "selbstverstaendlich" eingestuft werden dürften, im Laufe des tatsaechlichen historischen Ablaufes sich einfach nicht realisiert hatten. Wir sind der Überzeugung, dass diese Art des Nichteintretens von theoretischen Evidenzhaltungen und Prognosen keine genuin theoretischen Probleme sind21. Ein Beispiel für diese Elemente liefern jene langen Überlegungen in Francis Fukuyamas Buch, die die Realisierung der "condition humaine" des siegreichen Liberalismus als eine Art Existenz nach dem Muster von Friedrich Nietzsches "letztem Menschen" modellieren. Dieses ganze Modell gewaehrt uns einen leicht entzifferbaren Einblick in die wahre Prognose von Fukuyama, von der man jedoch heute schon feststellen kann, dass sie sich nicht bewahrheitet hatte. Es ist ein um so grösseres Problem, weil diese Verschiebung in den historischen (also nicht in den theoretischen) Umstaenden eine der vielversprechendsten wirklich theoretischen Errungenschaften Fukuyamas, seine Akzentuierung eines grösseren Anteils des "thymos" in der Interpretation von universalgeschichtlichen (historischen, intellektuellen und politischen) Prozessen auch mit sich verschwinden laesst.

Eine klare, wiewohl unerwartete, praktische und absolut aktuelle "List der Vernunft" entwaechst einer auf die direkte Gegenwart bezogene Reflexion über die Hegel-Fukuyama-Theorie. Der siegreiche Teil der Welt hat die Werte nicht veraendert, in deren Zeichen sie ihren historischen Sieg erkaempft hatte. Für die tatsaechliche Verwirklichung dieser Werte tat diese Haelfte der Welt aus eigener Einsicht nicht sehr viel, so dass sie sich anschickte, den Umfang und den Inhalt der siegreichen Werte für den "anderen" Teil aus leicht durchschaubaren egoistischen Motiven zu minimalisieren. Waehrend für Kant, Hegel und Fukuyama das Universum der liberalen Werte mit Verfassung, Menschenrechten, Gewaltenteilung und Autonomie identisch war, laesst sich der Kreis der minimalisierten Werte in der Treue zur monetaristisch-restriktiven Wirtschaftspolitik und im grosszügigen Verhalten den eigenen Minoritaeten gegenüber zusammenfassen (all das freilich PLUS ein bisschen Coca Cola). Dies heisst aber auch, dass sich vielleicht auch eine Herr-Knecht-Problematik neuer Qualitaet ihren Anfang nimmt. Damit erscheint jedoch auch eine spezifische Dialektik. Das Nicht-Eintreten von Fukuyamas Prognosen führt zur Bewahrheitung seiner Analyse der aktuellen Weltstruktur.

 

 

ANMERKUNGEN

 

1 Die zweigeteilte Welt als diskursbestimmende Grundtatsache erweist sich in einer Geschichte der Globalisation stets und immer wieder als schöpferischer Faktor. Deshalb erscheint das Ende der Zweiteilung sozusagen auch noch ohne weitere Interpretation, als Element eines "historischen Naturalismus" als entscheidendes Faktum. An dieser Stelle sei noch an die ganzen Disziplinen erinnert, die sich mit "Systemvergleich" auseinandergesetzt haben, ferner auch an die wieder zu selbstaendigen Disziplinen führenden Bestrebungen, die "Konvergenz" wieder in der Gestalt eines selbstaendigen Paradigmas thematisiert zu haben. Diese nur andeutungsweise angeführten Beispiele (über die Theorie etwa der "industriellen" Gesellschaft machen wir ebenfalls nur eine kurze Notiz) zeigen auf eine transparente Weise, dass schon das simple Daktum der Zweiteilung zur Konstitution neuer und selbstaendiger Wissenschaften geführt hat.

2 Die Auflösung der grossen Kolonialmaechte ging beispielsweise schon in einer Periode der Zweiteilung radikal durch (womit wir nicht eine unbedingt staerkere direkte kausale Verbindung zwischen Zweiteilung und Auflösung von Kolonien herstellen wollen), waehrend etwa die Konstitution der Bewegung der Entwicklungslaender schon eine klare Reaktion auf die Zweiteilung insgesamt war.

3 Die geschichtstheoretischen Dimensionen dieser Behauptung s. eingehender noch an diversen anderen Stellen dieser Arbeit.

4 Die Tatsache des Nichtvorhergesehenwerdens wird allgemein anerkannt, dessen Gründe werden aber kaum mit theoretischem Anspruch analysiert. Eine erfreuliche Ausnahme bildet der Band Láttuk-e elore, hogy jön? Budapest, 1992 (zusammengestellt von György Bence), in dem unter anderen eine Analyse über die Unvorhersehbarkeit dieser historischen Wende vom Verfasser dieser Zeilen erschienen ist ('A minden és a semmi közötti szellemi tér", auf deutsch: "Der geistige Raum zwischen dem Alles und dem Nichts").

5 Wir schwören drei Definitionen von Erik H. Erikson herauf, in denen diejenige Grundrelation studiert werden können, die wir - um diesen universalhistorischen Prozess einigermassen anschaulich zu machen - in einen neuen Kontext gestellt hatten: "Man kann diese Periode als psychosoziales Moratorium sehen, waehrend dessen der junge Erwachsene durch freies Experimentieren mit Rollen einen passenden Platz in irgendeinem Ausschnitt seiner Gesellschaft finden sollte..." (S. 160); "Unter einem psychosozialen Moratorium verstehen wir also einen Aufschub erwachsener Verpflichtungen oder Bindungen und doch handelt es sich nicht nur um einen Aufschub. Es ist eine Periode, die durch selektives Gewaehrenlassen seitens der Gesellschaft ...gekennzeichnet ist" (S. 181); "Ein echtes Moratorium muss eine zeitliche Grenze und einen Abschluss haben" (S. 297). Alle Zitate: Erik H. Erikson: Jugend und Krise. Die Psychodynamik im sozialen Wandel. Stuttgart, 1970. Die englische Originalfassung erschien 1968.

6 Auch die Unmöglichkeit des Reformkommunismus, deren Gründe im Detail in dieser Arbeit nicht ausgeführt werden kann, soll als ein Moment gelten, welches zum universalgeschichtlichen Charakter der von Fukuyama beschriebenen welthistorischen Wende beigetragen hat. S. darüber eine ungarischsprachige Analyse des Verf.: "Sztálinizmus és kulturforradalom között" (Zwischen Stalinismus und Kulturrevolution), in: Valóság, 1989/11. S. 56-71.

7 Ausführlich dargestellt in: Endre Kiss, "Vorhersehbarkeit und Dezisionismus in der Geschichte", in: Politische Lageanalyse. Bruchsal, S. 1993. 119-130.

8 Dass Albert Camus' ganze Konzeption ebenfalls in diesem Hegel-Kojeveschen intellektuellen Dimension aufgebaut worden ist, sollten die folgenden Zitate andeutungsweise klarmachen, ohne dass wir daran denken könnten, die extrem komplexe und gerade in disziplinaerer Sicht tatsaechlich universalgeschichtliche Einbettung der Existenzphilosophie von Albert Camus in expliziter Weise zu erschliessen: "Avec Napoléon et Hegel, philosophe napoléonien, commencent les temps de l'efficacité" (S. 166); "Hegel termine superbement l'histoire en 1807..." (S. 252.); "Il a cru que l'histoire en 1807, avec Napoléon et lui-meme, etat achevée, que l'affirmation etait possible et le nihilisme vaincu..." (S. 180). Alle Zitate: Albert Camus, l'Homme révolté. Paris, 1951.

9 S. Gehlens grundsaetzliche Studie "Über kulturelle Kristallisation" (1961), im Band: Studien zur Anthropologie. 1971. - Gehlen definiert seinerseits diejenigen Tatbestaende klar und eindeutig, die er zum Kriterium einer Konzeption vom "Ende der Geschichte" nimmt: "Ich exponiere mich also mit der Voraussetzung, dass die Ideengeschichte abgeschlossen ist", a.a.O.) - Gehlens Vorstellungen von einem Ende der Geschichte sind in mehreren typologisch relevanten Zügen mit denen von Fukuyamas verwandt. Den wichtigsten aehnlichen Zug zwischen den beiden Konzeption erblicken wir in der Grundeinsicht, dass bei beiden das "Ende" der Geschichte nicht eine Zaesur in der Zeit, sondern die Verwirklichung eines optimalen Grundzustandes definiert wird.

10 Rainer Piepmeier, "Das Ende der Geschichte", in: Willi Oelmüller (ed), Normen und Geschichte. 1979.

11 Dieses Beispiel gilt uns als der ideale Typus der Vorstellung des jedesmaligen Alltagsbewusstseins über das Ende der Geschichte, welche auch als ein Produkt dieses Bewusstseins stets im Horizont dieser Fragestellung anwesend ist. Es ist kein Zweifel, dass die unterschiedlichen Paraphrasen dieser Einsicht bei so grossen Forschern des Denkens wie Burke, Tocqueville oder Mannheim gleicherweise artikuliert werden. Zahlreiche gedankliche Facetten der Idee "Die, die die Zeit vor der Revolution nicht kannten, wissen nicht, was das Leben ist" s. etwa in Karl Mannheim, Der Konservativismus. Frankfurt am Main, 1984.

12 Es ist wirklich fast eine Notwendigkeit, diejenigen Zumutungen und Zuschreibungen mit einiger Ausführlichkeit heraufzubeschwören, die den eigentlichen Inhalt von Fukuyamas Theorem beim Namen genannt haben wollten. Allan Bloom, beispielsweise, der vor wenigen Jahren, d.h. auch vor der Wende über die "deutsche Verfremdung des amerikanischen Geistes" ein weltberühmtes Buch schrieb, interpretiert Fukuyamas geheime Botschaft so, dass nunmehr durch den "Verlust der negativen Orientationen diejenigen positiven Erforderungen hypertrophieren werden, die die übriggebliebenen irrationalen Wünsche der von der Nüchternheit des Kalten Krieges befreiten Menschheit widerspiegeln werden". Ebenfalls Bloom im spaeteren: "Aus dem, was Fukuyama sagt. weist manches in der Richtung, dass der Faschismus eine Zukunft hat". Pierre Hassner meint, dass Fukuyama "die Entwicklung des 20. Jahrhunderts auf den Sieg der liberalen Demokratie und der Konsumgesellschaft reduziert". Gertrude Himmelfarb, ebenfalls Teilnehmerin der ersten Runde der Diskussion, summierte die direkte Botschaft von Fukuyama so: "(Fukuyama) stellt die liberale Demokratie als Endpunkt der Geschichte verallgemeinernd und ewig dar". Irving Kristol redet direkt von der Notwendigkeit, einen "Schutzzoll vor die aus Paris importierten Ideen" errichten und identifiziert Fukuyamas Botschaft so: "(Herr Fukuyama) teilt uns mit, dass...die Vereinigten Staaten von Amerika die Verkörperung von all dem ist, auf was wir gewartet haben". Daniel Patrick Moynihan summiert diese Aussage in der folgenden Idee: "..die Menschheit kann (nach Fukuyama) keine neuen Erfahrungen mehr erzielen..." Alle Zitate aus The National Interest, Sommer, 1989.

13 "The most serious efforts at writing Universal Histories were undertaken, however, in the German idealist tradition. The idea was proposed by the great Immanuel Kant...This work (Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht- E.K.)...defined the essential terms of reference for all subsequent efforts to write a Universal History...Kant's essay did not itself constitute a Universal History...his idea merely pointed to the need for a new Kepler or Newton who could explain the universal laws of human historical evolution...It is remarkable the extent in which Hegel's system fulfilled all the particulars of Kant's proposal for a Universal History, both in form and substance." Francis Fukuyama. The End of History and the Last Man. New York, Toronto, etc. 1992. S. 57-59.

14 The End of History, 58.

15 Es sollte noch tiefer erforscht werden, dass die leichte und manchmal auf einer frappante Weise auf der Hand liegende frappante Anwendbarkeit des klassischen Idealismus auf die theoretisch aufgefasste globale Problematik unserer Zeit nicht auf einer monokausalen Basis, geschweige denn auf einer etwas verschwommenen Vorstellung über den philosophischen Historismus, vielmehr auch (!) aufgrund systematischen und sachlichen Notwendigkeiten steht. Waehrend sich bei Hegel diese leichte Anwendbarkeit vor allem auf der Tatsache beruht, dass bei globalen Wendezeiten all das, was bei Hegel metaphorisch unter der Kategorie des Absoluten subsumierbar wird, wegen des Ausfalls der politischen und internationelen Vermittlungen plötzlich "unmittelbar" erscheint, wird dieselbe Naehe bei Kant vor allem dadurch erzeugt, dass Kant diejenigen sozialontologischen Bestimmungen des Politischen generell wie optimal wahrnimmt und in seinen Gedankengang einbaut. Abgesehen von den fundamentaken Problemen einer Ontologie des Politischen erscheint dies bei Kant in den Problemen einer neuen europaeischen Ordnung von republikanischen Staaten, der neuen internationalen Ordnung im Kontext des Krieges und des Friedens, die Probleme der Souveraenitaet der Staaten und des Mangels einer möglichen über diessen liegenden Souveraenitaet. Kant schlaegt ferner einen ganzen Organon des richtigen internationalen Verhaltens auf "formellen" Prinzipien vor, welches bedauerlicherweise der Aufmerksamkeit Fukuyamas entgangen ist.

16 Auch für diesen Fall gilt es, dass die Kriterien einer konkreten Annahme des "Ende der Geschichte" erfüllt werden oder nicht. Alles weitere Fragen nach den Problemen und Themen, die auf dieser oder jener Linie mit einer Idee des "Endes der Geschichte" sinnvoll in Verbindung gebracht werden können, beeinflusst nicht die Möglichkeit eines "Endes der Geschichte", wenn die vorhin deklarierten Kriterien in Erfüllung gingen. Weder die Lösung aller realen und sozialen, noch diejenige aller intellektuellen und methodischen Fragen gehört mit Notwendigkeit zur Setzung eines "Ende der Geschichte". Im wesentlichen gilt es auch für so eminente Kritiker dieser Idee wie Leo Strauss und Alalan Bloom.

17 Dass in diesem abstrakt-theoretischen Sinne das System des realen Sozialismus waehrend des ganzen Zeitalters seines Bestehens "ideologisch" konzipiert und zum Teil tatsaechlich bestimmt war, wird auch dann in dem Zusammenhang unserer Arbeit vertreten, wenn wir auf der anderen Seite (und für jeden anderen theoretischen Kontext) energisch betonen würden, dass die soziologische Realitaet der Ideologien und des Ideologisiertseins eine durchaus vielschichtige und eigengesetzliche gewesen ist, eine Realitaet, die in keinem Schema ohne die Gefahr der Vereinfachung und der Ideologisierung zusammengefasst werden kann.

18 Über die disziplinaer einwandfreie Richrtigkeit dieser Analogie und Isomorphie laesst sich natürlich mit Recht streiten. Dass jedoch Hegels Philosophie und insbesondere die Herr-Knecht-Problematik mit der sozial- und politisch-philosophischen Vision des Marxismus generell historisch vielfach in positive Relation gebracht worden ist, gilt als ein historisches Faktum. Die philosophisch anspruchsvollste Facette dieses Fragenkomplexes ist in unseren Augen die vielfach in theoretische Vergessenheit geratene Aufnahme des Hegelschen Phaenomenologie des jungen Marx, die ihrerseits auch in dieser Richtung weist.

19 Um der Vollstaendigkeit willen soll auch darauf hingewiesen werden, dass die "westliche" Welt in der Gestalt einer spiegelverkehrten Argumentation sich selbst als eine Gesellschaft definierte, die (metaphorisch gesagt) bereits jenseits der Herr-Knecht-Relation liegt und auf solche Weise (wieder metaphorisch gesagt) ebenfalls ein "Ende der Geschichte" darstellt. Aus der Dualitaet dieser beiden (sich selbst also jeweils als ein "Ende der Geschichte" ansehenden) Haemisphaeren entstand also eine Einheit, die in dieser Dualitaet deklarierterweise noch kein "Ende der Geschichte" ausmachte.

20 Gerade diese Tatsache beweist die Richtigkeit von Fukuyamas ursprünglich theoretisch-universalhistorischem Ansatz mit dem Kampf der Werte. Denn es hat überhaupr nicht nur einen wertphilosophischen, vielmehr aber auch einen politischen und strukturellen Hintergrund, dass der einmalige Verzicht auf die Vertretung eines Wertsystems zum Zusammenbruch dieser Art der Gesellschaft geführt hatte.

21 Auch ohne tiefergehende Analyse der Prognostik jeglicher Provenienz kann es klar werden, dass gerade das Schicksal einer klaren Vorhersage nicht mehr unabhaengig von der Praxis jener Exekutive beurteilt werden kann, für welche die Vorhersage in aller Deutlichkeit klar erschienen ist. Diese Einsicht ist zweifellos eine triviale. Sie ist jedoch stets immer wieder zu betonen, weil in der Analyse der modernen politischen und sozialen Entwicklung diese, wie gesagt, triviale Unterscheidung kaum vollzogen wird, womit multikausale und komplexe soziale und politische Ereignisse als unmittelbarer Beweis oder Gegenbeweis von "Ideologien" oder "Prognosen" aufgefasst werden.